Handels

Anachronismus reduzierter Mehrwertsteuersatz: Ein Plädoyer für dessen Abschaffung

von Prof. Dr. Oliver Letzgus
07.10.2024

Viele kennen die Situation: Nimmt man bei McDonald’s den Big Mac verpackt mit nach draußen, ist dieser günstiger als bei Verzehr im Restaurant. Der wichtigste Grund hierfür: Bei Mitnahme wird nur ein Mehrwertsteuersatz von sieben Prozent erhoben, bei Konsum im Lokal dagegen 19 Prozent. Und das Umsatzsteuergesetz ist voll von Absurditäten: sieben Prozent auf Leitungswasser, 19 Prozent auf Mineralwasser; 7 Prozent auf die Hotelübernachtung, 19 Prozent aufs Restaurantessen; 7 Prozent auf Taxifahrten, 19 Prozent bei Fahrradkurieren; usw.

1919, also unmittelbar nach Ende der Ersten Weltkriegs und angesichts der großen Finanznot des Staates, hat Deutschland erstmals eine allgemeine Umsatzsteuer eingeführt. Der Steuersatz wurde auf 0,5 Prozent festgesetzt. Allerdings mit einem wesentlichen Unterschied zu heute: Der Steuersatz wurde auf jeder Wertschöpfungsstufe erhoben. Ein Vorsteuerabzug war nicht möglich. So ergaben sich vor allem bei langen Lieferketten erhebliche kumulative Effekte („Steuern auf Steuern“). Der Endverbraucher musste letztlich die Steuerbelastung auf jeder vorgelagerten Wertschöpfungsstufe tragen.

Der Steuersatz erhöhte sich bei dieser Allphasen-Bruttoumsatzsteuer im Lauf der Zeit bis auf vier Prozent. 1968 wurde dann diese Form der Umsatzbesteuerung in die bekannte Mehrwertsteuer (Allphasen-Nettoumsatzsteuer mit Vorsteuerabzug) umgewandelt. Darauf hatten sich die Mitgliedsländer der Europäischen Gemeinschaft zuvor geeinigt. Bei Einführung galt in Deutschland ein Regelsteuersatz von zehn Prozent, für Güter und Dienstleistungen zur Deckung von Grundbedürfnissen (u.a. Lebensmittel, ÖPNV-Tickets) ein ermäßigter Steuersatz von fünf Prozent.

Mit letzterem sollte insbesondere sozialpolitischen Erwägungen Rechnung getragen werden. Dazu sei angemerkt, dass Ende der 60er Jahre bei einem durchschnittlichen deutschen Haushalt mehr als ein Viertel der gesamten Konsumausgaben auf Lebensmittel und Getränke entfielen (siehe Grafik), bei ärmeren Haushalten war es noch deutlich mehr. Die Ermäßigung vor allem auf Lebensmittel erschien damals gerechtfertigt.

Der Mehrwertsteuersatz wurde seitdem wiederholt erhöht. Seit 1983 liegt der ermäßigte Satz bei sieben Prozent, der Regelsatz seit 2007 bei 19 Prozent. Die Schere zwischen beiden Sätzen hat sich also immer stärker geöffnet. Ist diese Spreizung heute noch gerechtfertigt?

Ein durchschnittlicher deutscher Haushalt gibt heute 11 Prozent seiner Gesamtausgaben für Lebensmittel aus und damit weniger als für Wohnen einschließlich Nebenkosten (23 Prozent) oder Verkehr (15 Prozent) und etwa gleich viel wie für Freizeit/Sport/Kultur/Bildung. Zwar dürfte der Anteil bei Haushalten mit geringem Einkommen höher liegen. Dennoch drängt sich die Frage auf, ob man den Verzehr von Lebensmittel für alle Einkommensgruppen subventionieren muss – und um nichts anderes handelt es sich bei dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz -, nur um einer einkommensschwachen Minderheit Lebensmittel zu einem geringeren Preis zur Verfügung zu stellen. Es wäre wohl deutlich sinnvoller, diese Subvention auf Lebensmittel abzuschaffen, sprich auch hier den vollen Mehrwertsteuersatz zu erheben, im Gegenzug aber die Transferzahlungen für Menschen mit geringem Einkommen zu erhöhen, sodass sich deren finanzielle Situation nicht verschlechtert?

Die erhöhten Mehrwertsteuereinnahmen könnten zudem dafür verwendet werden, den regulären Satz um mehrere Prozentpunkte zu reduzieren. Die steuerliche Verzerrung zugunsten von Lebensmitteln wäre abgeschafft zu einer Zeit, in der weniger Mangelernährung ein gesellschaftliches Problem darstellt, sondern übermäßiger Lebensmittelkonsum, Stichwort Übergewicht, mit all seinen gesundheitlichen Folgen. Hinzu kommt der klimapolitische Aspekt. Speziell der Fleischkonsum trägt erheblich zum menschengemachten Klimawandel bei. Daher erscheint es gerade widersinnig, den Fleischkonsum mit einem ermäßigten Steuersatz zu fördern.

Fazit: So sinnvoll die Abschaffung des reduzierten Mehrwertsteuersatzes aus ökonomischer Sicht auch sein mag, so unwahrscheinlich ist eine Umsetzung in absehbarer Zeit. Die Menschen hierzulande haben sich an niedrige Lebensmittelpreise gewöhnt. Selbst bei einer Kompensation an anderer Stelle (höhere staatliche Transferleistungen, Steuersenkungen bei anderen Steuern bzw. beim MwSt-Regelsatz) dürfte der Aufschrei groß sein, da einem die gestiegenen Preise bei jedem Einkauf ins Auge fielen. Die gefühlte Teuerung wäre größer als die tatsächliche. Steuerwiderstand vorprogrammiert. In Zeiten einer ohnehin großen gesellschaftlichen Erregung wäre dies wohl politischer Selbstmord. Aber man sollte die Hoffnung auf ökonomisch sinnvolle Reformen dennoch nicht aufgeben!

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