Die Auseinandersetzung zwischen Volkswagen und IG Metall geht seit Tagen durch die Medien. VW plant, mehrere deutsche Werke zu schließen und fordert von seinen Mitarbeitern zudem eine 10%-ige Lohnkürzung.
Für die IG Metall gleicht das einem Frontalangriff. Verhandlungsführer Thorsten Gröger spricht daher von einem „dreisten Griff in die Tasche der Beschäftigten“ und einer „Giftliste“ an unzumutbaren Forderungen, die seiner Gewerkschaft vorgelegt wurde. [1]
Hintergrund:
Gewinn und Marge von VW sind in 2024 dramatisch eingebrochen. Der Aktienkurs sank binnen eines Jahres um 11% und kennt seit Mitte 2021 ohnehin nur eine Richtung.
Kurzum: Das Management steht unter Druck.
Die naheliegende Antwort: Kosten senken, um die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern. [2]
VW-Verhandlungsführer Arne Meiswinkel sieht in VW auch nach den Einsparungen für die Arbeitnehmer noch immer einen hochattraktiven Arbeitgeber. [3] In diesem Punkt werden ihm vermutlich viele widersprechen.
Die Tatsache, dass sich Belegschaft und IG Metall der ernsten Lage bei VW bewusst sind, spricht dafür, dass es letztlich sehr wahrscheinlich zu Einschnitten auf Arbeitnehmerseite kommen wird. Denn Arbeitnehmer und Unternehmen teilen das Interesse an Fortbestand und Wettbewerbsfähigkeit von VW, welche wichtige Grundlagen für den Erhalt von Arbeitsplätzen darstellen. Daher gibt sich die IG Metall trotz ihres entschiedenen Entgegentretens auch (noch) recht konstruktiv, obwohl die Forderungen der Konzernführung ein echter Schlag ins Gesicht der Gewerkschaft sind. Das wird sich aber spätestens Anfang Dezember ändern, wenn die Friedenspflicht endet.
Verhandlungstaktisch sehe ich die Vorgehensweise von VW mit gemischten Gefühlen. Einerseits ist dieser Vorstoß mutig. Umfangreiche Zugeständnisse von der Belegschaft einzufordern schafft ein echtes Gegengewicht zu den ursprünglichen Vorstellungen der IG Metall nach 7% mehr Lohn und ist unabdingbar, wenn am Ende wirkliche Einsparungen erreicht werden sollen. Das ist ganz im Sinne von George Kohlrieser’s Empfehlung „Put the fish on the table“, also das Problem frühzeitig und klar zu benennen. [4]
Gleichzeitig lenkt dieser Schritt aber den Fokus der Verhandlungen sehr stark auf die Verteilungsfrage. Unweigerlich fragen die Verantwortlichen auf Gewerkschaftsseite daher, welchen Beitrag Aktionäre, Vorstand und Top Management leisten. Das liegt auch daran, dass VW mit der 10%-igen Einsparung bei den Löhnen einen Anker gesetzt hat, der willkürlich wirkt. Eine präzisere Zahl (z.B. 9,8%) eingebettet in ein umfängliches Restrukturierungskonzept wäre wohl nicht nur überzeugender, sondern würde den Anker auch legitimieren. [5] [6] Zudem könnte VW darüber auch signalisieren, dass beide Parteien im gleichen Boot sitzen und man um eine gemeinsame Lösung mit der IG Metall bemüht ist, statt das (Kosten-) Problem primär auf die Arbeitnehmer abzuwälzen.
Bei der Suche nach einer für beide Seiten tragfähige Lösung werden die Verantwortlichen nicht um integrative Ansätze herumkommen. Ich erwarte folgende Punkte:
- Win-Win-Lösungen: Der Abbau von Arbeitsplätzen durch Ruhestandsregelungen oder Altersteilzeit wird auf Arbeitnehmerseite durchaus auf Interesse stoßen. Insofern sind die Forderungen VW nicht inkompatibel mit den Interessen der Belegschaft.
- Wechselseitige Zugeständnisse (Trade-offs): Sofern sich Werksschließungen und betriebsbedingte Kündigungen vermeiden lassen, wäre die IG Metall vermutlich bereit, beim Entgelt Abstriche zu machen. So könnten beide Seiten, ihre wichtigsten Interessen befriedigen.
- Bedingte Vereinbarungen: Zugeständnisse der Belegschaft könnten an die Entwicklung von Gewinn, Marktanteilen oder anderen Kennzahlen gebunden werden. Sofern sich die Geschäftsentwicklung positiv gestaltet könnte VW Sonderzahlungen wie Weihnachtsgelder leisten, die bei schlechter Performance gestrichen würden.
Diese Antworten lösen aber nicht das Kernproblem von VW, denn das ist strategischer Natur.
Die wichtigste Frage lautet:
Wie kann VW die Mobilitätstransformation erfolgreich meistern und sich bei Elektroautos marktführend positionieren?
Eine Antwort darauf zu finden obliegt der Unternehmensleitung und diese Aufgabe könnte kaum herausfordernder sein. Ein neuer Tarifvertrag mag dabei helfen, kann aber nicht die Endlösung sein. Vielleicht kann der Tarifkonflikt VW dazu bewegen, über die kurzfristig erforderlichen Kostensenkungsmaßnahmen hinaus die Weichen für eine erfolgreiche Zukunft zu stellen. Darauf werden IG Metall und vermutlich auch die Politik drängen.
Quellen:
[1] NDR.de (2.11.24). Tarifgespräche: Volkswagen will massive Entgeltreduzierung. Abgerufen am 6.11.24, URL: https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/braunschweig_harz_goettingen/Tarifgespraeche-VW-will-massive-Entgeltreduzierung,vw6290.html
[2] [6] Wirtschafswoche (3.9.24). VW will offenbar mindestens ein Werk in Deutschland schließen. Abgerufen am 6.11.24, URL: https://www.wiwo.de/unternehmen/auto/volkswagen-plant-restrukturierung-vw-will-offenbar-mindestens-ein-werk-in-deutschland-schliessen/29972664.html
[3] MDR.de (30.10.24). Nach zweiter Tarifrunde: Sächsischer VW-Betriebsrat sieht kaum Annäherung bei Verhandlungen. Abgerufen am 6.11.24, URL:
https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/wirtschaft/volkswagen-tarifverhandlungen-kuerzung-gehalt-betriebsrat-sachsen-100.html
[4] Kohlrieser, G. (2025). Hostage at the Table. John Wiley & Sons, S. 131.
[5] Loschelder, D. D., Stuppi, J., & Trötschel, R. (2014). “€ 14,875?!”: Precision boosts the anchoring potency of first offers. Social Psychological and Personality Science, 5(4), S. 491-499.
[6] Loschelder, D. D., Friese, M., Schaerer, M., & Galinsky, A. D. (2016). The too-much-precision effect: When and why precise anchors backfire with experts. Psychological science, 27(12), S. 1573-1587.