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„Denn sie wissen nicht, was sie tun“ – spieltheoretische Überlegungen zur Regierungsbildung in Deutschland

von Prof. Dr. Oliver Letzgus
03.02.2025

Stellen Sie sich eine Gruppe gelangweilter Jugendlicher – in der Regel Jungen – irgendwo in der Provinz vor. Um ihrem Leben einen Kick zu geben, beschließen sie eine Mutprobe. Auf einer kerzengeraden Straße rasen zwei von ihnen auf dem Mittelstreifen mit ihren Autos einander entgegen. Der Feigling und damit Verlierer der Mutprobe ist derjenige, der zur Vermeidung eines Crashs zuerst ausweicht. Er wird zum Gegenstand der Verachtung. Der andere dagegen ist der Held der Gruppe und darf sich allgemeiner Bewunderung erfreuen. Zur Verdeutlichung: Um das beste Ergebnis – den Sieg im Feiglingspiel – zu erreichen, riskieren die Teilnehmer das Schlimmste, einen Frontalzusammenstoß mit unkalkulierbaren Folgen für Leib und Leben. Man könnte das jetzt abtun als verantwortungsloses Verhalten unreifer Jungen und es damit belassen. Doch die zugrundliegende Entscheidungssituation steht stellvertretend für wichtige politische Entscheidungen, wie wir gleich anhand der anstehenden Koalitionsverhandlungen in Deutschland sehen werden.

Der Name des Feiglingspiels – im Amerikanischen spricht man von Chicken Game – ist angelehnt an den James-Dean-Film „Denn sie wissen nicht, was sie tun“. In der berühmten Chicken-Run-Szene rasen die beiden Protagonisten auf eine Klippe zu. Feigling ist derjenige, der als erstes aus seinem Wagen springt. Das Chicken Game hat in der Spieltheorie Karriere gemacht (und gilt etwa in der Politikwissenschaft als Erklärung für den Ausgang der Kubakrise 1962).

Betrachten wir für das Chicken Game die möglichen Ergebnisse aus Sicht eines der beiden Akteure (Fahrer 1), wobei unterstellt wird, dass es mit „Geradeaus“ fahren und „Ausweichen“ nur zwei mögliche Handlungsoptionen gibt. Daraus ergibt sich folgende Reihenfolge der Ergebnisse (Fahrer 1/Fahrer 2):

Geradeaus/Ausweichen (Fahrer 1 ist der Held)

Ausweichen/Ausweichen (Fahrer 1 ist zwar ein Feigling, aber immerhin nicht allein)

Ausweichen/Geradeaus (Fahrer 1 ist alleiniger Feigling)

Geradeaus/Geradeaus (katastrophales Ergebnis für beide)

Bild4

Da es sich um ein symmetrisches Spiel handelt (beide Akteure haben dieselben Strategiemöglichkeiten), spricht vieles für zwei mögliche Ergebnisse (in der Spieltheorie spricht man von „Nash-Gleichgewichten“): Einer der beiden entscheidet sich für „Geradeaus“ fahren, der andere für „Ausweichen“. Es gibt also aus Sicht der Akteure jeweils ein gutes und ein schlechtes Ergebnis.

Jetzt zu den anstehenden Koalitionsverhandlungen in Deutschland. Die Bundestagswahl hat ergeben, dass von den Parteien der Mitte lediglich die CDU/CSU und die SPD eine stabile Regierung bilden können. Grob vereinfacht haben beide Parteien (CDU/CSU soll als eine Partei interpretiert werden) zwei Verhandlungsoptionen: Entweder unnachgiebig die eigenen Positionen vertreten („Geradeaus“) oder sich kooperativ zu verhalten („Ausweichen“). Wenn beide auf ihren teils konträren Positionen beharren (z.B. in der Migrations- oder Wirtschaftspolitik), werden die Koalitionsverhandlungen scheitern. Es kommt, weil beide geradeaus fahren, im Sinne des Chicken Games zum Crash. Das Ergebnis wären wohl Neuwahlen mit einem möglichen Wahlsieg der AFD. CDU/CSU und SPD könnten vom politischen Fenster weg sein.

Mindestens einer der beiden Verhandlungspartner muss mithin kooperativ sein. Ideal wäre aus individueller Sicht, wenn sich die jeweils andere Partei weg von ihren ursprünglichen Positionen bewegt („ausweicht“), während man selbst auf den eigenen Positionen beharrt („geradeaus fährt“).

Die Aussagen nach der Wahl deuten darauf hin, dass die Union mit ihrem klarem Stimmenvorsprung vor der SPD die Rolle des Geradeaus-Fahrers für sich reklamiert, mithin die eigenen Positionen weitgehend ungeschmälert durchsetzen will, während von der SPD verlangt wird, auszuweichen. Die Sozialdemokraten sollen demnach insbesondere in der Migrations- und Wirtschaftspolitik ihre Positionen aufgeben. Wenn die Verhandlungen so ausgingen, gäbe es ein Gleichgewicht mit der Union als „Held“ und der SPD als „Feigling“.

Doch es hat den Anschein, als wäre die SPD spieltheoretisch versierter als die Union. Dazu nochmals zurück zum ursprünglich Chicken Game: Stellen Sie sich kurz vor, einer der beteiligten Autofahrer brächte kurz vor dem Start an seinem Steuerrad gut sichtbar für seinen Kontrahenten ein Lenkradschloss an, welches ihn daran hindert, auszuweichen. Sein Gegenüber wäre dann gezwungen, auszuweichen, um den Crash zu vermeiden. Der Fahrer mit dem Lenkradschloss hat das für ihn günstigere der beiden möglichen Ergebnisse (selber geradeaus fahren/der andere weicht aus) erzwungen. In der Spieltheorie nennt man ein solches Verhalten, bei dem die eigenen Handlungsoptionen für den anderen erkennbar beschnitten werden, eine Selbstbindung.

Nun zurück zur SPD. Die Partei hat angekündigt, den ausgehandelten Koalitionsvertrag ihren Mitgliedern zur Abstimmung vorzulegen. Damit signalisiert sie der Union, dass im Regierungsprogramm eine sozialdemokratische Handschrift gut erkennbar sein muss, da sonst ihre Mitglieder nicht zustimmen werden. Es handelt sich um nichts anderes als eine Selbstbindung: Nur wenn wir geradeaus fahren, also genügend SPD-Inhalte sich darin wiederfinden, wird unsere Partei ihren Segen geben. Oder mit anderen Worten: Die Union muss trotz des Wahlsiegs ausweichen, also eigene Positionen preisgeben, um eine Regierung zustande zu bringen.

Es mag demokratietheoretisch fragwürdig sein, dass ein paar tausend SPD-Mitglieder darüber entscheiden, ob ein 80-Millionen-Volk eine Regierung bekommt oder nicht. Verhandlungstaktisch geht die SPD-Führung mit dem Verweis auf einen Mitgliederentscheid geschickt vor. Es ist daher zu erwarten, dass der Koalitionsvertrag mehr SPD-Anliegen enthalten wird, als es das Wahlergebnis erwarten lässt.

Ob das gut oder schlecht für das Land ist, mag jeder selbst entscheiden….

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