Handels

Der First-Offer-Advantage in Verhandlungen – Wie man den psychologischen Ankereffekt für sich nutzt

von Prof. Dr. Michel Mann
03.06.2024

Ende März verstarb der Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahneman kurz nach seinem 90. Geburtstag. Wie sein Partner Amos Tversky gilt er als einer der Begründer der Verhaltensökonomie. Im Kern dieser Disziplin steht die Annahme, dass der Mensch kein rein rational handelndes Wesen ist, sondern bei vielen seiner Entscheidungen beispielsweise auf Heuristiken zurückgreift. Diese mentalen Shortcuts beschleunigen zwar viele kognitive Prozesse, machen den Menschen aber auch anfällig für Denkfallen (Biases). Eine dieser Fallen soll in diesem Blogartikel näher dargestellt werden:

Der Ankereffekt (Anchoring Bias) und der First-Offer-Advantage in Verhandlungen[1]

In Verhandlungen stehen wir typischerweise vor der Frage, ob wir das erste Angebot auf den Tisch bringen oder dies der Gegenseite überlassen. Die empirische Forschung zeigt, dass erste Angebote (First Offers) oftmals die Funktion psychologischer Anker haben, welche den weiteren Verlauf der Verhandlung maßgeblich beeinflussen. Dabei bietet ein erstes Angebot dem Empfänger Orientierung, da dieser erste Referenzwert, den beide Parteien miteinander teilen, Rückschlüsse auf potenzielle Verhandlungsergebnisse und Erwartungen des Verhandlungsgegners ermöglicht. Das erste Angebot kann den Empfänger dazu veranlassen, die eigenen Erwartungen herunterzuschrauben und ein moderateres Gegenangebot zu formulieren als dies ohne den erhaltenen Anker der Fall gewesen wäre. Letztlich profitiert der Erstanbietende dadurch von besseren Verhandlungsergebnissen und sichert sich den First-Offer-Advantage.[2]

Im Rahmen meiner Verhandlungstrainings in verschiedenen Bachelor- und Master-Studiengängen an der DHBW verhandeln die Teilnehmer regelmäßig miteinander. In einer solchen Übung versuchen sie, sich über den Kaufpreis für eine Fabrik zu verständigen. Für die Verhandlungsergebnisse von 109 Paaren zeigt die statistische Auswertung einen positiven Zusammenhang (Korrelation) zwischen der Höhe des ersten Angebots (Anker) und der Höhe des finalen Kaufpreises. Dieser systematische Zusammenhang ist nicht nur von mittlerer Stärke, sondern auch hoch signifikant. Stark vereinfacht ausgedrückt bedeutet dies, dass in diesen Verhandlungen hohe (niedrige) erste Angebote zu hohen (niedrigen) Kaufpreisen führten.[3] Zahlreiche empirische Studien belegen die Robustheit des Ankereffekts für Verhandlungen, aber auch für andere Kontexte.[4] Eine aktuelle Studie von Lipp et al. (2022) gibt einen interessanten Überblick über die einschlägige Verhandlungsforschung.[5]

Nun ließe sich einwenden, dass Studierende beim Verkauf einer Fabrik nicht über die erforderlichen Erfahrungswerte verfügen und der Ankereffekt in Verhandlungen unter Profis keine Rolle spielen dürfte. Gegen diese Auffassung sprechen allerdings Belege einer empirischen Studie, in der sich zeigte, dass selbst erfahrene Makler dem Ankereffekt zum Opfer fielen und Immobilien höher bewerteten, wenn ihnen zuvor ein (hoher) psychologischer Anker präsentiert wurde.[6]

Wie aber kann ich den Ankereffekt in Verhandlungen zu meinem Vorteil nutzen?

  • Ankere zuerst: Um den Ankereffekt für sich zu nutzen, müssen Verhandler als erste einen Referenzwert etablieren, z.B. durch das erste Angebot, das in einer Verhandlung unterbreitet wird.
  • Ankere fundiert: Anker sollten stets auf einer guten Informationsgrundlage basieren. In der Vorbereitung muss daher der Wert des Verhandlungsgegenstands genauestens unter die Lupe genommen werden.
  • Ankere ambitioniert, aber realistisch: Der Ankereffekt fällt umso stärker aus, je extremer der Referenzwert gewählt wird. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass der Referenzwert nicht utopisch gesetzt sein darf, da der Anker ansonsten wirkungslos verpufft.[7]
  • Ankere begründet: Das Mitliefern einer überzeugenden Begründung für den Anker verbessert dessen Legitimation als fair wirkendenden Vorschlag und ist zudem für den Verhandler selbst eine Art Realitätscheck, um reinem Wunschdenken beim Ankern vorzubeugen.[8]
  • Ankere präzise: Ein präziser Anker wie z.B. 17.900 Euro beim Gebrauchtwagenverkauf entfaltet stärkere Wirkung als ein runder Anker (z.B. 18.000 Euro), weil er begründet erscheint. Dabei sollte jedoch beachtet werden, dass eine zu hohe Präzision kontraproduktiv ist und den Anker schwächt (z.B. 17.929 Euro).[9]

Verschiedene Experten vertreten mitunter andere Auffassungen zum Ankern in Verhandlungen. Darunter auch Chris Voss, ein früherer Verhandlungsführer des FBIs und Bestseller-Autor.[10] Seine Skepsis bezieht sich primär auf die suboptimale Wahl des Ankerwerts, der zu niedrig bzw. zu hoch gewählt sein könnte.[11] Laut Voss laufen Verhandler beim Ankern Gefahr, unnötig einen Teil des Gewinnpotenzials zu verschenken oder gar einen Verhandlungsabbruch zu riskieren. Wenngleich diese Überlegungen nicht grundsätzlich falsch sind, so sprechen die zahlreichen empirischen Forschungsergebnisse gegen diese auf anekdotischer Evidenz basierende Auffassung. Nicht in jeder Verhandlung, aber über die Summe aller Verhandlungen, die wir führen, zahlt sich der Einsatz der Ankertechnik aus. Zudem lassen sich die Risiken des Ankerns reduzieren, indem Verhandler nicht zu früh ankern bzw. in bestimmten Konstellationen ganz aufs Ankern verzichten. Hierzu drei abschließende Empfehlungen, wann man besser (noch) nicht ankern sollte:

  • Bei hoher Unsicherheit: Wenn der Wert des Verhandlungsgegenstands trotz guter Vorbereitung weiter schlecht einschätzbar ist, ist das Risiko zu groß, dass der Anker (viel) zu niedrig oder zu hoch gewählt wird. Dann empfiehlt es sich, die Verhandlung dafür zu nutzen, die eigene Unsicherheit zunächst zu reduzieren.
  • Am Anfang einer Verhandlung: Zu Beginn der Verhandlung sollten Verhandler zunächst Informationen über die Gegenseite einholen und die eigenen Annahmen überprüfen, bevor sie vorschnell ihren Anker werfen. Dabei spielt das Verständnis der Interessen, Motive und Bedürfnisse des Gegenübers eine entscheidende Rolle.
  • Bei hohem Beziehungsfokus: Wenn die sozialen Auswirkungen der Verhandlung (z.B. die Beziehung zum Gegenüber) wichtiger erscheinen als die finanziellen Ergebnisse, können Verhandler bewusst auf die Vorteile des Ankerns verzichten.

 

Wenn Sie an weiteren Empfehlungen zum Ankern interessiert sind, kann ich Ihnen meine laufende Serie zum 1×1 des Ankerns ans Herz legen. Diese finden Sie auf LinkedIN: https://www.linkedin.com/posts/activity-7185509653294764033-ydFx/


Titelbild: Engin Akyurt/Pexels.com

[1] Tversky & Kahneman (1974). Judgement under Uncertainty: Heuristics and Biases. In: Science.

[2] Galinsky & Mussweiler (2001). First offers as anchors: The role of perspective-taking and negotiator focus.  In: Journal of Personality and Social Psychology

[3] Eigene, unveröffentlichte Daten basierend auf Ergebnissen im Rahmen der Verhandlungsübung „Der Fabrikverkauf“. Der Korrelationskoeffizient r beträgt für die Daten von 109 Verhandlungspaaren 0,366.

[4] Galinsky & Mussweiler (2001); vgl. auch Chapman & Bornstein (1996). The more you ask for, the more you get: Anchoring in personal injury verdicts. In: Applied cognitive psychology.

[5] Lipp et al. (2022). Toward a process model of first offers and anchoring in negotiations. In: Negotiation and Conflict Management Research.

[6] Northcraft & Neale (1987). Experts, amateurs, and real estate: An anchoring-and-adjustment perspective on property pricing decisions. In: Organizational Behavior and Human Decision Processes

[7] Galinsky & Mussweiler (2001).

[8] Malhotra & Bazerman (2007). Negotiation Genius.

[9] Loschelder et al. (2016). The Too-Much-Precision Effect: When and Why Precise Anchors Backfire With Experts. In: Psychological Science; Loschelder et al. (2014). “€14,875?!”: Precision Boosts the Anchoring Potency of First Offers. In: Social Psychological and Personality Science.

[10] Voss (2016). Never split the difference: Negotiating as if your life depend on it.

[11] Voss (2017). The Top 2 Reasons To Not Go First In A Negotiation. URL: https://www.blackswanltd.com/the-edge/the-top-2-reasons-to-not-go-first-in-a-negotiation?utm_campaign=Chris%20LinkedIn&utm_content=290779958&utm_medium=social&utm_source=linkedin&hss_channel=lis-i6P2SEqsO1 (abgerufen am 28.5.20245).

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