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Eine Einführung in die qualitative Forschung

von Prof. Dr. Michel Mann
08.07.2024


Teil 1: Charakterisierung qualitativer Forschung

Viele wissenschaftliche Arbeiten an der DHBW Heilbronn und an anderen Hochschulen greifen auf qualitative Forschungsansätze zurück, um praxisrelevante Fragestellungen zu untersuchen. Die Studienpraxis bringt jedoch nicht selten Herausforderungen mit sich, welche eine angemessene Anwendung qualitativer Methoden erschwert. Diese Blog-Serie soll daher über die Nutzung qualitativer Forschungsansätze aufklären und zentrale Fragen klären. Dieser erste Blog-Artikel widmet sich zunächst einem allgemeinen Überblick.

 

 

Forschungsansätze im Überblick

In den Sozialwissenschaften, zu denen die Wirtschaftswissenschaften zählen, unterscheidet man quantitative und qualitative Forschungsansätze. Das Hauptziel quantitativer Forschung liegt in der Überprüfung von Theorien. In quantitativen Arbeiten werden dazu regelmäßig Hypothesen, also vorläufige und überprüfbare Antworten auf Forschungsfragen, über standardisierte Verfahren und große, möglichst repräsentative Stichproben getestet.[1]

Der Fokus der qualitativen Forschung liegt dagegen auf der Theoriebildung. Hierfür konzipieren Forschende Untersuchungsdesigns, die sinnverstehende, nicht standardisierte Verfahren nutzen und auf kleinen Fallzahlen basieren. Qualitative Forschungsarbeiten erfüllen daher nur sehr selten die Anforderungen der Repräsentativität von Stichproben.[1] [2]

Da sich quantitative und qualitative Forschung nicht gegenseitig ausschließen, hat sich mittlerweile ein dritter Ansatz etabliert, die sogenannte Mixed-Methods-Forschung. Sie beschreibt den kombinierten und integrierten Einsatz von Elementen aus beiden Forschungsansätzen.[3]

 

 

Worin liegen die Hauptunterschiede zwischen qualitativer und quantitativer Forschung?

Ein zentraler Unterschied zwischen quantitativer und qualitativer Forschung liegt darin, wo Theorien und Hypothesen im wissenschaftlichen Prozess positioniert sind. In der quantitativen Forschung bilden sie den Ausgangspunkt. Quantitative Forschung ist deduktiver Natur, sie geht vom Allgemeinen aus und trifft darüber Ableitungen auf den Einzelfall. Quantitativ Forschende sind darum bemüht, eine bereits existierende, allgemeine Theorie auf deren Gültigkeit in einem besonderen Kontext zu überprüfen.[1] [4] Zum Beispiel wurde quantitativ untersucht, ob die Zielsetzungstheorie nach Locke und Latham auch im Kontext von Verhandlungen gültig ist, also ob sich das Setzen spezifischer und schwerer Ziele positiv auf die Verhandlungsergebnisse auswirkt.[5] [6]

Im Gegensatz dazu sind in der qualitativen Forschung Theorien nicht der Ausgangspunkt wissenschaftlicher Arbeit, sondern deren Resultat. Qualitativ Forschende arbeiten vorwiegend induktiv, sie schließen von Einzelfällen auf das Allgemeine, versuchen Gesetzmäßigkeiten aufzudecken, die dann der Theoriebildung dienen.[1] [4] In der Verhandlungsforschung wurde zum Beispiel untersucht, durch welche Verhaltensweisen sich effektive, gewerkschaftliche Verhandlungsführer auszeichnen. [7]

Dieser elementare Unterschied bildet den Ausgangspunkt vieler weiterer Unterschiede zwischen den beiden Forschungsansätzen, die in Tabelle 1 beschrieben werden.

 

Tabelle 1

 

Quantitative Forschung

Qualitative Forschung

Forschungsprozess

Linearer Prozess mit klarer Abfolge der Forschungsphasen (z.B. Hypothesenbildung-For­schungs­design-Datenerhe­bung-Daten­auswertung-Test der Hypothesen)

Zirkulärer Prozess,
d.h. Forschungsdesign, Daten­erhe­bung und Datenaus­wertung werden mehrmals durchlaufen

Verfahren

Standardisiert und vorab festgelegt

Offen und flexibel (im Forschungs­prozess veränderbar)

Typische Methoden der Datenerhebung

Befragung, Experiment

Interview, Gruppendiskussion, Fallstudie, Dokument

Stichprobengröße

Vorab definiert, bspw. um Störfaktoren zu kontrollieren und die statistische Power (Teststärke) zu erhöhen

Vorab nicht definiert, die Stichprobenziehung ist flexibel, aber nicht willkürlich

Daten

Numerische Daten

Interpretationsbedürftige Daten

Datenanalyse

Statistische Auswertung

Interpretative Auswertung

Typische Methoden der Datenanalyse

Deskriptive Statistik,

Inferenz­statistik

Inhaltsanalyse, Codierung

Gütekriterien

Objektivität, Reliabilität und Validität

Vertrauenswürdigkeit (Trustworthiness)

Schwerpunkte                 

Erklären, Vorhersagen

Beschreiben, Verstehen

Quelle: eigene Darstellung [1] [3] [4] [8] [9]

In dieser Blog-Serie konzentrieren wir uns auf interviewbasierte, qualitative Forschung und insbesondere auf deren Konzeption, die Besonderheiten von Interviews in Datenerhebung und Datenanalyse sowie auf die Limitationen dieser Methode.

 

Wann ist qualitative Forschung sinnvoll?

Qualitative Forschung ist besonders geeignet, um neue oder wenig verstandene Phänomene zu erkunden, zu explorieren. Über qualitative Arbeit lassen sich Hypothesen bilden und im Anschluss quantitativ überprüfen. Sie ermöglicht Forschenden zudem, sich mit abweichenden Fällen zu befassen, welche als Indikator für die Gültigkeitsgrenzen bestehender Theorien interpretiert werden können. Qualitative Forschung geht aber über diesen rein explorierenden Charakter hinaus und eignet sich auch zur datenbasierten Theoriegewinnung (Grounded Theory).[4] [10]

Zentrales Kriterium für die Wahl des Forschungsansatzes ist die Forschungsfrage. Das Forschungsdesign muss passend zur Forschungsfrage gewählt werden. Soll der Schwerpunkt einer wissenschaftlichen Arbeit auf kausalen Erklärungen liegen, so sind quantitative Forschungsansätze zu wählen. Dagegen sind qualitative Studien vielversprechender, wenn es darum geht, bislang wenig erforschte Phänomene besser zu verstehen. Ein Beispiel für den Nutzen qualitativer Ansätze ist bei Bowles und Kollegen zu finden, die untersuchten, wie Frauen im Job verhandeln, um beruflich voranzukommen. Die Studie deckte drei Verhandlungsstrategien auf, die in Folgestudien durch quantitative Ansätze genauer untersucht werden konnten. [11]

Die folgenden Fragen liefern Beispiele aus dem Gebiet der Wirtschaftswissenschaften, die sich für eine qualitative Untersuchung grundsätzlich eignen:

  • Wie erleben Kunden den Einkauf in kassenlosen Supermärkten?
  • Was gefällt oder missfällt Konsumenten bei der Verwendung eines Produktes?
  • Wodurch versuchen sich Manager in Verhandlungen einen Machtvorteil zu verschaffen?
  • Wie gehen Führungskräfte mit den gestiegenen Anforderungen ihrer Mitarbeiter um?
  • Worin liegen die Ursachen für Erfolg und Misserfolg von Unternehmensfusionen?

 

Ausblick

In den folgenden Teilen dieser Serie werden wir uns detailliert mit den spezifischen Aspekten qualitativer Forschung beschäftigen, im Einzelnen mit der Forschungskonzeption, Datenerhebung und –analyse sowie dem Erkenntnisgewinn, den Gütekriterien und Limitationen qualitativer Arbeit.

Bleiben Sie also dran!

Für eine umfassende Beschäftigung mit dieser Thematik empfehlen sich die Lehrbücher von Krell & Lamnek oder Schreier und Kollegen. Details hierzu finden sich in den folgenden Literaturangaben.

 

 

Literatur:

Titelbild: Dall-E

[1] Bauer & Hussy (2023): Psychologie und Sozialwissenschaften als empirische Wissenschaften. In Schreier et al. (Hrsg.): Forschungsmethoden in Psychologie und Sozialwissenschaften für Bachelor (3. Auflage). Springer. S. 1-56.

[2] Echterhoff (2023): Quantitative Methoden. In Schreier et al. (Hrsg.): Forschungsmethoden in Psychologie und Sozialwissenschaften für Bachelor (3. Auflage). Springer. S. 57-126.

[3] Weydmann & Schreier (2023): Bewertung qualitativer Forschung. In Schreier et al. (Hrsg.): Forschungsmethoden in Psychologie und Sozialwissenschaften für Bachelor (3. Auflage). Springer. S. 319-334.

[4] Krell & Lamnek (2024): Qualitative Sozialforschung (7. Auflage). Beltz.

[5] Locke & Latham (2002): Building a Practically Useful Theory of Goal Setting and Task Motivation: A 35-Year Odyssey. In: American Psychologist, 57(9), S. 705-717.

[6] Bazerman et al. (1985): Integrative Bargaining in a Competitive Market. In: Organizational Behavior And Human Decision Processes, 35(3), S. 294-313.

[7] Mann et al. (2024): United we stand: a principle-based negotiation training for collective bargaining. In: International Journal of Conflict Management, 35(2), S. 427-452.

[8] Schreier (2023): Qualitative Forschungsansätze. In Schreier et al. (Hrsg.): Forschungsmethoden in Psychologie und Sozialwissenschaften für Bachelor (3. Auflage). Springer. S. 205-246.

[9] Lincoln & Guba (1986).  But Is It Rigorous? Trustworthiness and Authenticity in Naturalistic Evaluation. In: Williams (Hrsg.): Naturalistic Evaluation. Jossey-Bass. S. 73-84.

[10] Glaser & Strauss (1967): The Discovery of Grounded Theory. AldineTransaction.

[11] Bowles et al. (2019): Reconceptualizing What And How Women Negotiate For Career Advancement. In: Academy of Management Journal, (62(6), S. 1645-1671.

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