Die zweite Januarwoche 2024 war in Deutschland geprägt durch Verkehrsblockaden der Bauern und dem von der Gewerkschaft der Lokomotivführer (GDL) initiierten Streik, der den Bahnverkehr weitgehend lahmlegte. Vor diesem Hintergrund bietet sich eine gute Gelegenheit, nochmals einen genaueren Blick auf den Einfluss von Verbänden und Interessengruppen zu werfen.
Individuen schließen sich zusammen, um gemeinsame Anliegen zu verfolgen. Interessant in diesem Zusammenhang ist die Frage, wie es überhaupt zur Bildung eines Interessenverbandes kommt. Individuen, die einen solchen gründen oder einem beitreten, erhoffen sich dadurch konkrete Vorteile (z.B. Einkommensverbesserungen). Dem stehen die Kosten der Mitgliedschaft (Mitgliedsbeiträge, zeitliches Engagement, etc.) gegenüber. Aus rein ökonomischer Sicht erfolgt ein Beitritt, wenn der Nutzen die Kosten übersteigt.
Interessengruppen sehen sich allerdings mit dem Problem konfrontiert, dass auch Nichtmitglieder an ihren Erfolgen (z.B. hohe Tarifabschlüsse bei Gewerkschaften, Gewährung von Subventionen bei Unternehmensverbänden) partizipieren, ohne sich an den anfallenden Kosten zu beteiligen. Oder um es anders zu formulieren: Erfolge von Interessengruppen sind Kollektivgüter, von denen niemand ausgeschlossen werden kann. Das damit verbundene Trittbrettfahrerphänomen erschwert von vorneherein die Gruppenbildung insbesondere bei sehr großen Gruppen. Exemplarisch seien hier die Verbraucher oder Steuerzahler genannt.
In der grundlegenden Arbeit zu diesem Thema hat Mancur Olson („The Logic of Collective Action: Public Goods and the Theory of Groups“, 1968) vor allem folgende Faktoren angeführt, die eine Gruppenbildung erleichtern bzw. überhaupt erst ermöglichen:
- Die Gruppe darf nicht zu groß sein.
- Weitgehend homogene Interessen der Mitglieder.
- Starke Betroffenheit der Mitglieder.
- Historische Bindung oder gar Zwangsmitgliedschaft.
- Die Interessengruppe bietet den Mitgliedern exklusive Zusatzleistungen (sog. „selektive Anreize“).
Blicken wir unter diesen Aspekten einmal auf die GDL. Nach eigenen Angaben hat die GDL rund 40.000 Mitglieder. Sie vertritt 75 Prozent der Lokomotivführer in Deutschland. Es handelt sich damit um eine vergleichsweise kleine Gewerkschaft mit hohem Organisationsgrad. Als Berufsgruppe haben die Lokomotivführer einheitliche Interessen (aktuell: Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf 35 Stunden bei vollem Lohnausgleich) und sind vom Tarifabschluss unmittelbar betroffen. Eine Zwangsmitgliedschaft gibt es zwar nicht, allerdings blicken die Lokomotivführer auf eine lange gewerkschaftliche Geschichte zurück. Bereits 1867 schlossen sie sich zur GDL-Vorläuferorganisation „Verein deutscher Lokomotivführer“ zusammen. Ein mögliches Trittbrettfahrerverhalten wird nicht zuletzt dadurch geschwächt, dass die GDL ihren Mitgliedern bei Arbeitsniederlegungen Streikgeld als Entschädigung für den Lohnausfall bezahlt. Kurzum: Die GDL erfüllt fast alle Voraussetzungen für die Bildung einer Interessengruppe. Dass die GDL gute Chancen hat, ihre Forderungen durchzusetzen, hat darüber hinaus mit ihrer hohen Konfliktfähigkeit zu tun. Mit der weitgehenden Stilllegung des Bahnverkehrs richtet sie erheblichen Schaden an, der nicht nur den Gegenpart bei den Tarifverhandlungen (die Deutsche Bahn) trifft, sondern auch die Bevölkerung und die Wirtschaft im Allgemeinen. Letztere sitzen jedoch nicht am Verhandlungstisch, sind jedoch erheblich beeinträchtigt und drängen deshalb auf eine Beendigung des Arbeitskampfes. In diesem Wissen dürfte die Kompromissbereitschaft der GDL eher gering sein. Die Chancen auf einen überdurchschnittlichen Tarifabschluss der kleinen, aber arbeitskampferprobten Vereinigung stehen damit gut.
Jetzt zu den vom Deutschen Bauernverband (DBV) organisierten Protesten. Auslöser sind die von der Bundesregierung angekündigten Subventionskürzungen bei der Kfz-Steuer für landwirtschaftliche Maschinen und beim Agrardiesel. Zwar wurden diese inzwischen schon wieder zu einem erheblichen Teil zurückgenommen. Die Proteste vor allem in Form von Straßenblockaden werden jedoch fortgesetzt.
Auch der Bauernverband gilt historisch als durchsetzungsstarke Interessengruppe. Der DBV repräsentiert nach eigenen Angaben ca. 90 Prozent der knapp 300.000 landwirtschaftlichen Betriebe in Deutschland. Es handelt sich zwar um keine kleine Gruppe im klassischen Sinne, der hohe Organisationsgrad deutet aber darauf hin, dass das Trittbrettfahrerproblem überschaubar ist. Hinzu kommt, dass die angekündigten Subventionskürzungen die Bauern in ihrer Gesamtheit und in erheblichem Maße treffen, sodass eine weitere Voraussetzung für eine hohe Teilnahme an den Protesten gegeben ist. Im Gegensatz zur GDL, deren Arbeitskampfmaßnahmen gegen die Arbeitgeber gerichtet ist, agiert der DBV als Interessenverband der Landwirte gegenüber der Politik. Die Gewinnung oder Verteidigung von Subventionen ist eine typische Aufgabe einer solchen Lobbygruppe. Dabei verfügt der DBV über eine hohe Konfliktfähigkeit, da schon wenige Traktoren an Auffahrten genügen, um ganze Autobahnen abzuschneiden.
Dass sich die Bundesregierung mit einer solch gut organisierten und konfliktstarken Gruppe anlegt, überrascht schon etwas – und das ganze wegen zunächst 2 Mrd. Euro Subventionsabbau, der sich inzwischen auf nur noch ca. 500 Mio. Euro beläuft. Das Handbuch der Politischen Ökonomie besagt nämlich sinngemäß folgendes: Belaste große Gruppen mit kleinen, kaum spürbaren Beträgen, sodass es zu keinem Widerstand kommt. Begünstige kleine Gruppen mit spürbaren Summen, um deren Unterstützung zu „kaufen“. Aus dieser Warte ist die Erhöhung der CO2-Steuer geradezu mustergültig. Der Preis für einen Liter Benzin steigt dadurch um gut 4 Cent. Doch von dieser zum 1. Januar 2024 erfolgten Erhöhung merkt fast niemand etwas, da sie im Auf und Ab der allgemeinen Spritpreisentwicklung untergeht. Von Widerstand der Autofahrer ist bislang jedenfalls nichts zu spüren.
Dagegen trifft die Subventionskürzung bei den Landwirten, die sich im Einzelfall auf mehrere tausend Euro pro Betrieb summiert, auf eine gut organisierte Lobby, die harten Widerstand angekündigt hat. Weitere Machtfaktoren des DBV sind Wählerstimmen seiner Mitglieder und die teils wohlwollende Begleitung durch Medien und Öffentlichkeit. Es scheint, als habe sich die Politik den falschen für die Sanierung des Bundeshaushalts ausgesucht.
Eine weitere Lehre: Sind Subventionen einmal eingeführt, sind sie kaum mehr aus der Welt zu schaffen.