Am Regionalflughafen von Lüttich kommen jeden Tag über 1 Mio. Einzelpäckchen per Luftfracht aus China an. 200 Zollbeamte versuchen das europäische Steuer- und Zollsystem durchzusetzen.[1]
Temu versteht sich als Plattform, auf der Kunden in Europa und den USA direkt mit Produzenten in Asien verlinkt werden. Durch die Ausschaltung von Zwischen- und Einzelhandel und durch die kosteneffiziente Herstellung werden den Kunden niedrigere Preise versprochen. Das Netzwerk umfasst nach Aussagen von Temu „Weltklasse-Hersteller“. Dahinter stehen allerdings eher kleinere und mittelgroße Hersteller aus China und nicht die Giganten in den Warengruppen. Datenschutz, Sicherheitsstandards bei der Bezahlung, Preisgarantien und Serviceleistungen wie Gratisversand und Gratisrücksendungen (hier nach Asien!) werden in der App herausgestellt.[2] Bei Amazon oder auch Zalando/Kaufland.de/Otto verkaufen über die Plattform Händler/Zwischenhändler mit Sitz in der EU für den europäischen Markt. Die Verkäufer sind hier im Vergleich also nicht Produzenten wie bei Temu.
Damit gehört Temu zu den Plattform-Geschäftsmodellen, die die Welt in kurzer Zeit verändern. Für den Erfolg sind Netzwerkeffekte, Architektur, Launch, Monetarisierung und Offenheit essentiell. Das Wachstum kann bei Plattformen sehr viel schneller erfolgen als bei herkömmlichen Unternehmen, da die Wertschöpfung mit Ressourcen erfolgt, die weder erworben werden noch unter Kontrolle stehen müssen. Plattformen werden grundsätzlich Pipelines gegenüber überlegen eingeschätzt. Gründe dafür sind bessere Skalierbarkeit, neue Quellen der Wertschöpfung durch die User Community und Feedbackschleifen durch Daten. Temu hat somit als Basis des Geschäftsmodells die Plattform wie Airbnb, Uber, Paypal und Co.[3]
Der Erlösstrom ergibt sich bei Temu eher nicht aus den Transaktionen, sondern aus Retail Media. KI gestützt und mit Kundendaten werden Einnahmen aus Online-Marketing erzielt. Gewinnspiele, außergewöhnliche Promotions und Videos sollen ein Einkaufserlebnis ermöglichen.
Die niedrigen Preise ziehen nicht nur Endkonsumenten sondern auch Großhändler auf die Plattform. Interessant ist der direkte Zugang zu Produzenten gerade für kleinere Großhändler ohne Eigenbezug aus Asien.[4]
Global hat Temu derzeit 480-490 Mio. Nutzer mit dem Ziel von 600 Mio. in 2024. Davon sind in Europa nur 40-50 Mio. User. Die durchschnittliche Nutzungsdauer ist mit 19 Minuten relativ hoch anzusetzen (im Vergleich mit Amazon 11 Minuten). Das durchschnittliche Bestellvolumen beträgt auf der Plattform 26-28 USD (USA 40 USD und EU 35 USD). Die Wiederkaufsrate ist mit 28% innerhalb von 16 Monaten im Vergleich zu Wal-Mart, Target und Amazon außergewöhnlich hoch.[5]
Bei Temu fehlen hochwertige Markenprodukte mit höheren Verkaufspreisen. Durch das Fehlen dieser Produkte wird der Eindruck von Billig-Plattformen erweckt, obwohl im Einstiegsbereich viele Überschneidungen bei den Produkten im Vergleich mit der führenden E-Commerce-Plattform Amazon gegeben sind. Im Niedrigpreisbereich sind durch die Ausschaltung von Zwischenhändlern und die Umgehung von Einfuhrzöllen die identischen Produkte oft billiger. Bei Shein betrifft das auch Markenprodukte.
Die Bezeichnung Billig-Plattform ist bei Temu wie auch Shein eher nicht passend, zutreffender wären eher die Beschreibung D2C-Plattform, in der Konsumenten in der westlichen Welt (bei Shein global) direkt mit Herstellern in China verknüpft werden. China ist und bleibt die Werkbank für Konsumgüter. Ohne Marke haben viele Konsumgüter sehr günstige Ab-Werk-Preise. Die bisherigen Gatekeeper werden durch eine effizientere direkte Interaktion zwischen Konsum und Produktion ersetzt . Die Ausschaltung des Zwischen- und Einzelhandels hat jedoch auch negative Effekte, wie die fehlende Qualitätskontrolle.
Temu und Shein betreiben beide eine D2C-Plattform. Der wesentliche Unterschied liegt in den Sortimentsschwerpunkten. Bei Shein dominieren Damen-, Herren und Kinderbekleidung, Heimtextilien, Beauty und Schuhe. Bei Temu gibt es zusätzlich Haushaltsartikel, Elektronik und Heimtierartikel etc. Bei Temu gibt es eine große Überschneidung mit Amazon, bei Shein eher mit Zalando. Shein führt im Gegensatz zu Temu auch Markenware, wenngleich diese Marken wie Dazy, Cuccoo, Petsin und Slow Sunday meist eher unbekannt sind. In den jeweiligen Dienstleitungen auf der Plattform und Preisstrukturen für den Versand gibt es weitere Unterschiede im Detail. Shein ist global in 220 Ländern aktiv, während Temu in vielen Ländern noch nicht präsent ist.[7] Ein Unterschied ist noch, dass bei Temu keine Marken verkauft werden. Alle Produkte sind nicht gebrandet.
Bei Amazon und Zalando gibt es neben dem Marketplace noch ein Eigengeschäft (Marktanteil in 2022 17% im Vergleich zum Marktanteil Marketplace 39% bei Amazon). Temu und Shein haben kein Eigengeschäft. Amazon hat also noch ein klassisches B2C-Geschäft, während Temu eher D2C (Direct to consumer) betreibt. Temu hat keinen Warenbestand, der finanziert werden müsste und trägt auch kein Abverkaufsrisiko.
In den letzten Wochen ist über Temu und SHEIN viel geschrieben und diskutiert worden. Verbände wie der HDE und Unternehmer wie Raoul Roßmann fordern ein staatliches Vorgehen gegen Regelverstöße[8]. Es wurden bereits Verfahren nach dem Digital Services Act eingeleitet. Wettbewerbszentralen mahnen Temu ab.[9]
Dabei ging es um willkürliche Rabatte (wo kommen die UVPs her?), fragwürdige Bewertungen, bisherige Verkaufszahlen, Umgehung von Steuern und Einfuhrzöllen (geschätzt gilt 2/3 der Pakete nicht die 150 Euro-Grenze für die Zollbefreiung[10]), manipulierte Bestände und bestimmte irreführende Formen der Kundenansprache[11]. Weniger genannt in der Diskussion werden die fehlende Absicherung von sozialen- und Umweltstandards.[12] Das LKSG ist hier aus dem Spiel.
Und wie sieht es mit physikalischen und chemischen Tests zu den Produkten aus? Hier ist für gefährliche Produkte mit denen die Märkte überschwemmt werden Tür und Tor geöffnet. Die bisher nur 2.000 Rapex-Warnungen[13] würden bei täglich 1 Mio. Paketsendungen in die USA und EU förmlich explodieren, wenn Aufsichtsbehörden wirklich aktiv werden würden.
Interessant sind auch die bewusst in Kauf genommene Verletzungen von Patenten, Geschmacksmustern und Markenrechten. Zumindest sind schnell Beispiele dafür sichtbar trotz einer „Null-Toleranz-Richtlinie gegenüber Fälschungen und Rechtsverletzungen“.
adidas hat die Markenrechte für die seitlichen Streifen. Seitliche Streifen sind nur bei adidas erlaubt, ob 2, 4 oder 5 ist da egal. In 2019 hat das EU Markenamt die Eintragung von 2 Streifen verweigert mit der Begründung zu großer Ähnlichkeit. Die Schuhe auf der Collage dürften in der EU alle nicht verkauft werden.
Insgesamt haben wir bei Temu Wild West. Alle Regeln werden bewusst nicht beachtet. Die Plattformen müssen mit drastischen Strafen voll in die Haftung genommen werden. Nur dann haben wir gleiche Wettbewerbsbedingungen. Insofern liegt hier eine Form des Marktversagens vor.
Mit Tik Tok Shop ist die nächste Plattform mit riesiger Reichweite, insbesondere bei jüngeren Zielgruppen, in den Startlöchern. Aliexpress baut in Europa den Mitarbeiterstamm weiter aus. Diese Anbieter sind als durchaus disruptiv zu bezeichnen. Von einem „möglichen Amazon-Killer“[14] zu sprechen, würde den Angegriffenen auf nur einen Player reduzieren. Andere etablierte Plattformen wie Zalando und Otto sowie der gesamte stationäre Handel wären betroffen. Insofern wäre die Einordnung als (West-) Retail-Killer zutreffender. Von Nonfood-Discounter wie General Dollar und Tedi bis hin zu Fast-Fashion wie New Yorker und H&M werden alle Kunden und damit Umsätze verlieren.
Und es zeigt sich, wir brauchen weiterhin den Gatekeeper Handel zwischen Produktion und Konsum. Der Handel sortiert täglich aus dem überquellenden Angebot aus Fernost aus, nicht nur was nicht nachgefragt wird, sondern was nicht den Regeln entspricht. Eine der wichtigsten Handelsfunktionen bleibt die Qualitätssicherung. Diese Bedeutung nimmt durch Temu und weitere chinesische Plattformen noch weiter zu. Die Effizienz der Transaktionen hat durch Plattformen zugenommen, nicht jedoch die Effektivität solange bedenkliche Produkte in den Markt kommen.
Titelbild: Infos im App-Store von Apple zu Temu (eigene Aufnahme)
[1] Vgl. https://www.tagesschau.de/wirtschaft/verbraucher/temu-pakete-zoll-steuern-100.html
[2] Vgl. Temu App, Temus Versprechen
[3] Vgl. PARKER, Geoffrey G.; VAN ALSTYNE, Marshall W.; CHOUDARY, Sangeet Paul. Die Plattform-Revolution: Von Airbnb, Uber, PayPal und Co. lernen: Wie neue Plattform-Geschäftsmodelle die Wirtschaft verändern. MITP-Verlags GmbH & Co. KG, 2017.
[4] Vgl. Heinemann, G. in https://www.tagesschau.de/wirtschaft/verbraucher/temu-onlinehandel-konkurrenz-amazon-100.html
[5] Vgl. https://techbuzzchina.substack.com/p/how-temus-semi-managed-model-could
[6] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1387811/umfrage/anzahl-der-visits-pro-monat-von-temu/
[7] Vgl. https://de.shein.com
[8] Vgl. https://www.lebensmittelzeitung.net/handel/online-handel/e-commerce-marktplaetze-dominieren-deutschen-onlinehandel-177591; https://www.lebensmittelzeitung.net/handel/nachrichten/online-plattform-rossmann-chef-fordert-abschaltung-von-temu-bei-regelbruechen-177576
[9] Vgl. https://www.lebensmittelzeitung.net/politik/nachrichten/digital-services-act-temu-shein–co.-bekommen-regulierung-zu-spueren-177529
[10] Vgl. https://www.lebensmittelzeitung.net/politik/nachrichten/chinesische-online-plattformen-hde-fordert-eu-sitz-fuer-versender-176782
[11] Vgl. https://www.lebensmittelzeitung.net/politik/nachrichten/haendler-gibt-unterlassungserklaerung-ab-verbraucherzentrale-verzichtet-auf-klage-gegen-temu-177702
[12] Vgl. https://www.lebensmittelzeitung.net/politik/nachrichten/chinesische-online-plattformen-hde-fordert-eu-sitz-fuer-versender-176782
[13] Vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/783890/umfrage/anzahl-der-rapex-meldungen-von-produkten-der-europaeischen mitgliedstaaten/#:~:text=Im%20Jahr%202023%20lag%20die,Vergleich%20zum%20Vorjahr%20stark%20angestiegen.
[14] Vgl. Heinemann, G. https://www.tagesschau.de/wirtschaft/verbraucher/temu-onlinehandel-konkurrenz-amazon-100.html