Handels

Soziale Medien als Konsummotor: Chancen, Risiken und Dynamiken viraler Trends

von Prof. Dr. Carsten Kortum
27.10.2025

Die zunehmende Digitalisierung des Konsumverhaltens verändert nicht nur, was Menschen kaufen, sondern auch, wie sie Kaufentscheidungen treffen und Konsum interpretieren. Besonders Videoplattformen wie TikTok, Instagram Reels oder YouTube Shorts haben in den vergangenen Jahren erheblich an Bedeutung gewonnen, weil sie Emotionen, Nachahmungsimpulse und soziale Vergleichsmechanismen gleichzeitig sehr gut aktivieren. Bewegtbildformate erzeugen bekannterweise eine höhere kognitive und emotionale Bindung als statische Inhalte; empirische Untersuchungen zeigen, dass Videos im Durchschnitt eine um bis zu 60 % höhere Erinnerungsleistung bewirken als reine Textinformationen (Statista, 2024). Die Rezipient:innen erleben das Dargestellte auf den Plattformen quasi mit, wodurch Produktnutzung und -empfehlung authentischer wirken. Besonders die scheinbare Alltagsnähe vieler Creator verstärkt die Glaubwürdigkeit von Konsumempfehlungen (im Gegensatz z.B. zur traditionellen Markenwerbung). Dadurch wird Konsum in soziale Interaktion eingebettet – er dient weniger der Bedürfnisbefriedigung, sondern zunehmend der Teilhabe und Identifikation.

Virale Produkttrends bergen dabei zugleich Chancen und Risiken für Konsument:innen und Handelsunternehmen. Auf der Chancenseite stehen enorme Reichweiten- und Umsatzpotenziale: Kampagnen wie #TikTokMadeMeBuyIt zeigen, dass einzelne Produkte binnen Tagen globale Absatzsprünge erzielen können. Marken wie CeraVe, UGG oder die Stanley Cups profitierten 2024 von einer exponentiellen Nachfrage, die mit klassischen Werbeformen kaum erreichbar wäre (TikTok, 2024). Derartige Hypes bieten Händlern zudem eine Möglichkeit, mit geringem Marketingaufwand in neue Zielgruppen vorzudringen. Die Budgets sind oft nicht sehr groß. Die Risiken liegen jedoch in der Kurzlebigkeit und Unplanbarkeit solcher Phänomene. Häufig übersteigen die viralen Nachfragespitzen die Produktions- und Logistikkapazitäten, was zu Lieferengpässen, Überbeständen bei Verspätung, Preisverzerrungen oder Qualitätsproblemen führt. Für Konsument:innen resultieren Impulskäufe nicht selten in Kaufreue, kognitiver Dissonanz oder hohen Retourenquoten (Kantar, 2024).

Kurzfristige Hypes können für Handelsunternehmen ökonomisch attraktiv sein, sofern sie agil auf Trendbewegungen reagieren und ihre Sortimente dynamisch anpassen können. Gerade große Handelsketten von FMCGs wie dm, Rossmann oder REWE zeigen, dass eine flexible Listungspolitik und Social-Listening-Systeme die Teilnahme an viralen Konsumwellen erleichtern (Handelsjournal, 2024). Wird der Trend jedoch ohne strategische Einbettung verfolgt, drohen Reputationsschäden: Eine Marke, die ausschließlich durch kurzfristige Trendprodukte auffällt, verliert an Substanz und Bindungskraft.

Langfristig wirken Social-Media-Trends weniger durch einzelne Produktzyklen, sondern durch die Etablierung neuer Kauflogiken. Nach Daten der GfK (2025) entdecken bereits 41 % der 18- bis 29-Jährigen Produkte erstmals über Social Media – ein Indikator für die strukturelle Verlagerung von Kaufanbahnung und Markenkommunikation in digitale Plattformumgebungen. Konsum beginnt damit nicht mehr im stationären Regal am POS oder im Online-Shop, sondern im algorithmisch kuratierten Feed. Der Konsum beginnt schon gar nicht beim Lesen des Haushaltshandzettels. Der Kaufakt wird in einen sozialen Kontext eingebettet, in dem Lifestyle, Ästhetik und Anerkennung zentrale Rollen spielen.

Social Media hat somit die kulturelle Bedeutung des Konsums transformiert. Produkte sind zunehmend Ausdruck von Zugehörigkeit, Status und Individualität. Über Plattformmechanismen wie Likes oder Kommentare entstehen Vergleichsdynamiken, die materialistische Werte und soziale Statussymbole verstärken. Gleichzeitig zeigen sich Gegentrends wie Deinfluencing oder Slow Living, die auf Konsumkritik und Achtsamkeit setzen. Beide Bewegungen illustrieren, dass Social Media nicht nur Nachfrage steuert, sondern auch den öffentlichen Diskurs über Konsumethik prägt (Hofmann & Knoll, 2024).

Aus Perspektive des Handels sind virale Trends ambivalent – Segen und Fluch zugleich. Einerseits demokratisieren sie Markterfolg, weil auch kleine Marken ohne hohe Werbebudgets Sichtbarkeit erlangen können. Die Hits würden an die Nische Marktanteile verlieren. Andererseits unterliegen sie einer hohen Volatilität und erschweren langfristige Planbarkeit. Händler benötigen deshalb datengetriebene Frühwarnsysteme und agile Wertschöpfungsketten (und das bei Vorlaufzeiten für Nonfood aus Asien von 9-12 Monaten), um Trends schnell zuverlässig zu erkennen und Chancen zu nutzen, ohne in operative Problemstellungen zu geraten (EHI Retail Institute, 2024). Unternehmen wie Douglas, Zalando oder Edeka entwickeln inzwischen interne Trendradare und Creator-Kooperationen, um Social-Media-Bewegungen systematisch zu beobachten und gegebenenfalls mitzugestalten. Auch viele Start-ups tummeln sich in diesem Feld der Früherkennung mittels KI.

Unter den Plattformen spielt TikTok derzeit eine herausragende Rolle. YouGov-Daten (2025) zeigen, dass 64 % der 16- bis 24-Jährigen dort erstmals neue Produkte wahrnehmen – doppelt so viele wie bei Instagram. Der Erfolg resultiert aus dem besonders starken Personalisierungsalgorithmus, der nicht primär soziale Netzwerke, sondern individuelle Interessen kuratiert. Während frühere Plattformen primär Vernetzung förderten, erzeugt TikTok eine algorithmische Entdeckungskultur, in der auch unbekannte Marken viral werden können (Knapp, 2025). Damit beeinflusst TikTok nicht nur was gekauft wird, sondern auch wie Konsum wahrgenommen und bewertet wird. Der Kaufakt wird Teil der Selbstdarstellung, der Warenkorb Teil der Identität.

Für den Handel ergibt sich daraus die Notwendigkeit, eigene Kommunikationsstrategien auf diese neue Logik abzustimmen. Erfolgreiche Marken und Händler nutzen TikTok nicht als klassischen Werbekanal, sondern als Resonanzraum für kulturelle Trends. Beispiele sind REWE mit rezeptbasierten Kurzvideos, Douglas mit Micro-Influencer-Kampagnen oder Aldi Süd mit kreativen Challenges zu Eigenmarken. Entscheidend ist dabei nicht Reichweite, sondern Authentizität: Konsument:innen reagieren stärker auf glaubwürdige, humorvolle oder informative Inhalte als auf professionell produzierte Werbespots.

Mein Fazit

Social-Media-Plattformen, insbesondere TikTok, verändern die Strukturen des Konsumverhaltens nachhaltig. Sie beschleunigen die Diffusion von Trends, emotionalisieren Kaufentscheidungen und verschieben Machtverhältnisse zwischen Marken, Handel und Konsument:innen. Virale Hypes sind meist kurzfristige Phänomene – doch ihre langfristige Wirkung liegt in der Etablierung neuer Erwartungshaltungen: Konsum muss inspirierend, sichtbar und sozial anschlussfähig sein. Für den Handel bedeutet das, Trendmechanismen nicht nur passiv zu beobachten, sondern als Teil einer strategischen Markenführung aktiv zu gestalten. Erfolgreich werden jene Händler:innen sein, die es verstehen, kurzfristige Impulse in langfristige Kundenbeziehungen zu überführen – und dabei den kulturellen Kontext von Konsum ernst nehmen.

Quellenverzeichnis

EHI Retail Institute. (2024). Social Commerce Report 2024. Köln: EHI Verlag.

GfK. (2025). Social Media und Kaufentscheidungen 2025. Nürnberg: Growth from Knowledge.

Handelsjournal. (2024). Wenn Trends Regale füllen: Wie Händler auf virale Produkte reagieren. Zugriff am 12. Oktober 2025, von https://www.handelsjournal.de

Hofmann, J., & Knoll, J. (2024). Influencer Marketing und digitale Konsummuster. Wiesbaden: Springer VS.

Kantar. (2024). Impulse Buying and Regret in Social Commerce. London: Kantar Insights.

Knapp, D. (2025). Retail Media und die Creator Economy. Köln: Handelsblatt Research Institute.

Statista. (2024). Video Content Marketing – Effizienz und Erinnerungsleistung 2024. Zugriff am 10. Oktober 2025, von https://www.statista.com

TikTok. (2024). TikTok Made Me Buy It – Consumer Trend Report 2024. Los Angeles: ByteDance Ltd.

YouGov. (2025). Consumer Trends on Social Media 2025. London: YouGov PLC.

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